Franz Miller: Irre geworden an einer heillosen Welt

Zeiten und Umstände, in die Franz Miller [am 28. August] 1886 [als 4. von 11 Kindern] hineingeboren wird, sind schwierig. Schon sein Vater Liborius Miller ist ein armes „lediges" Kind aus Glurns in Südtirol. Liborius Miller findet ab 1880 Beschäftigung in einer Rankweiler Stickerei und in Bertha Gisinger aus Altach [geb. 23 Juni 1859, Lindau] eine Ehefrau.

Der junge Franz Miller besucht fünf Klassen der Volksschule, arbeitet dann bei Bauern und erhält schließlich eine Lehrstelle als Schmied in der Eisenbahnwerkstätte in Feldkirch-Levis. Da er nun ein regelmäßiges Einkommen hat, heiratet Miller im Jahre 1911 die Nachstickerin Lidwina Schuchter, deren Eltern ebenfalls aus Tirol stammen. Am 28. November 1912 wird das erste Kind geboren, doch stirbt es einen Monat später. Bald folgt die Geburt des zweiten Kindes, das weitestgehend ohne Eltern aufwachsen wird.

Erstmals im Jahre 1907 und dann wieder 1910 und 1912 wird der 1,60 m große und rothaarige Franz Miller zu mehrwöchigen Waffenübungen der Kaiserschützen nach Südtirol einberufen. Bei der Mobilmachung im Sommer 1914 wird er sofort zu seinem Regiment nach Bozen eingezogen und bereits im Oktober 1914 an die russische Front beordert.

Krieg und Gefangenschaft

Mit tausenden anderen österreichischen Soldaten ist Miller von der zaristischen Armee in der Festungsstadt Przemyzl eingeschlossen. Er hungert und hofft auf Rettung - und erhält die Nachricht, dass zu Hause seine junge Frau am 16. Februar 1915 an einem Lungenleiden verstorben ist. Im Frühling 1915 wird die Festung von den Russen eingenommen.

Miller und eine Unzahl von Leidensgenossen werden gefangen genommen, durch ganz Sibirien transportiert und schließlich in einem Kriegsgefangenenlager in der fernen Mandschurei interniert. Bereits wenige Tage nach der Ankunft reißt Miller mit einigen Kameraden aus. Tatsächlich gelingt der Gruppe das Unmögliche: Nach einer 16 Monate dauernden Flucht gelangen die Männer relativ unversehrt nach Europa.

Im böhmischen Leitmeritz werden die Erschöpften am 28. Oktober 1916 ins dortige Militärspital aufgenommen. Franz Miller wird später diese unglaubliche Flucht durch die Tundra und übers Eismeer in einem 40-strophigen Epos zu beschreiben versuchen. Die Strophe 10 fasst die Strapazen und Gefahren, die davor im einzelnen beschrieben werden, zusammen:

Gewandert und gefahren, bei Sturm und Wind

wir gar vieles mussten erfahren,

denn wir ja doch geflüchtet sind,

betroffen von allen Gefahren

 

Nach seiner Rückkehr aus dem Weltkrieg im November 1918 lässt sich Franz Miller mit seinem gleichnamigen Sohn fotografieren. Millers junge Frau ist bereits 1915 verstorben; den Buben hat sie im Dezember 1914 während der Kriegsabwesenheit des Vaters zur Welt gebracht.

 

Ohne Karte und Kompass, wie Miller festhält, hat die Gruppe Urwälder, Sümpfe, das Eismeer und Flüsse durchquert, Bären und Wölfen getrotzt und sich über weite Strecken nur von Beeren, Baumrinden und Wurzeln ernährt. Noch 14 Jahre nach der glücklichen Heimkunft sind für Franz Miller die traumatischen Fluchterlebnisse ganz lebendig, obwohl in der Zwischenzeit weitere dramatische Ereignisse den Ruhelosen in Bewegung gehalten haben. Denn das erwähnte aufwühlende Gedicht schreibt er erst im Jahre 1930 - als Insasse der „Irrenanstalt" Valduna. Hier erst wird er Zeit für solche Nachdenklichkeit haben.

Weniger Zeit lässt ihm die k.k. Armee: Bereits einen Monat nach seiner Rückkehr wird Miller einem Ersatzbataillon zugeteilt und an die Balkanfront in Marsch gesetzt. Hier wird der Eisenbahnschlosser immerhin der Heeresbahn zugeteilt. Nach Spitalsaufenthalten in Ploesti und Bukarest und kurzer Erholung in Österreich kommt Miller im Oktober 1917 wieder an die russische und ab Juni 1918 an die italienische Front. Wegen Krankheit wird er Ende August 1918 entlassen und erlebt das Kriegsende zu Hause. Der Kriegsheimkehrer ist nach allem, was er erlebt und durchlitten hat, körperlich geschwächt und psychisch angeschlagen. Seinem Kind ist er ein Fremder.

Neustart in Amerika

Die Arbeits- und Verdienstverhältnisse in der Feldkircher Eisenbahnwerkstätte, ja die Lebensverhältnisse insgesamt, sind in den Nachkriegsjahren elend. Eine Reihe von Eisenbahnschlossern versucht nun einen Neustart in der Neuen Welt. Wer das Glück hat, einen amerikanischen Bürgen zu finden und ein Visum zu erhalten, wandert aus. Franz Miller hat einen Verwandten in Brooklyn. Er kann nun seinen Arbeitskollegen nach Amerika folgen.

Am 28. Februar 1923 verlässt er auf dem damals größten Ozeandampfer „Majestic" den französischen Hafen Cherbourg und betritt am 7. März in New York amerikanischen Boden. Wie die meisten Neuankömmlinge wird er sich hier zu niedrigsten Arbeiten verdingt haben - als Tagelöhner, wie es später in der Krankengeschichte heißen wird. Doch 1927 kehrt Miller - wie andere auch - in die alte Heimat zurück; Amerika ist und wird nicht seine Welt.

Die harten Jahre in New York haben aber zu seiner weiteren psychischen Zerrüttung beigetragen. So wie er die Kriegserlebnisse nicht loswerden kann, bringt er aus Amerika eine Art dauerhaften Jetlag mit. Er kann in der Nacht nicht mehr schlafen, geistert durch Rankweil und wird den Leuten „unheimlich". Da er keine Arbeit findet, schläft er am Tag. Zeitweise wird er im Armenhaus untergebracht. Auch erzählt er immer fantastischer werdende Geschichten - etwa über Reichtümer, die er vom amerikanischen Präsidenten zu erwarten habe. Auf Veranlassung des Armenhausverwalters wird er im August 1929 in die Valduna eingewiesen. „Sonst war er nicht auffällig, verhielt sich immer ruhig", heißt es in der Beschreibung des Armenvaters.

Vom Armenhaus in die Valduna

So unauffällig bleibt er allerdings nicht. Zwar wird er anfangs noch als „ruhig, klar, geordnet" beurteilt, doch mit zunehmender Dauer des Aufenthalts in der Anstalt wird der Patient Franz Miller ungehaltener, „schimpft oft" und wird in den späteren Jahren manchmal auch zu Mitpfleglingen aggressiv. Eine Heilung ist also in der „Heil- und Pflegeanstalt" der 1930er Jahre nicht feststellbar. Während Miller das Jahr 1930 großteils schreibend verbringt - mit Gedichten oder Verbesserungsvorschlägen für die Anstalt -, scheint er gegen Ende der l930er Jahre apathischer und - wie andere Hoffnungslose, die ihr politisches Heil in der Vergangenheit suchen, auch - monarchistisch geworden zu sein.

Als der bereits illegale Nationalsozialist Dr. Josef Vonbun nach dem „Anschluss" die Leitung der Anstalt übernimmt, werden sofort die Strukturen neu geordnet und die PatientInnen unter neuem Blickwinkel taxiert. Die so genannten „Unheilbaren" hat der „Führer" Adolf Hitler mit Erlass vom 1. September 1939 für den „Gnadentod" freigegeben. Die Naziärzte warten nur darauf, Herren über Leben und Tod werden zu können.

Franz Miller wird von der neuen Anstaltsleitung 1940 als „negativistisch, sonst ruhig" beschrieben. Das ist sein Todesurteil.

Mit 130 weiteren PatientInnen der Valduna wird Franz Miller mit dem ersten Transport am 10. Februar 1941 nach Schloss Hartheim in Oberösterreich verbracht. Dort werden alle antransportierten Vorarlbergerlnnen, Erwachsene und Kinder, Männer und Frauen, unmittelbar nach der Ankunft ins Gas getrieben.

Franz Miller hat schon einmal im Jahre 1934 die Valduna als „Mörderorganisation" beschimpft. Damit hat er zwar dem damaligen Personal unrecht getan, die Verhältnisse, die den späteren Massenmord ermöglicht haben, aber dumpf vorausgeahnt. Ob er sich bis zuletzt schimpfend gewehrt oder sich in sein schreckliches Schicksal ergeben hat, wissen wir nicht.

Franz Miller aus Rankweil ist weiter in der Welt herumgekommen als die meisten seiner Zeitgenossen. Er hat schwere persönliche Schicksalsschläge hinnehmen müssen, hat den Ersten Weltkrieg dramatisch überlebt und einen Neuanfang im fernen Amerika versucht - und ist an diesen Lasten irre geworden. Eine medizinische Hilfe gibt es damals noch nicht, bloß Verwahrung. Nicht einmal die haben ihm die mitleidslosen Vollzieher des nationalsozialistischen Tötungsprogramms gewährt.

Aus Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg  Opfer .Täter. Gegner S. 217 - 219, Quellen: Norbert Schnetzer/Hans Sperandio, 600 Jahre Valduna. Der lange Weg - vom Klarissinnenkloster zum Landeskrankenhaus, Rankweil 1999, s. 110. Gespräch mit Herbert Rauch, Rankweil 5.4.2012, Vorarlberger Landesarchiv, Taufbuch Rankweil; Militärkarte

[Ergänzungen] und Links von Günter Dietrich

« zurück nach oben download